Jonathan Franzen: Das Gehirn meines Vaters

Eine Erinnerung: An einem trüben Februarmorgen des Jahres 1996 bekam ich von meiner in St. Louis lebenden Mutter ein Päckchen zum Valentinstag, das eine kitschigrosa Glückwunschkarte, zwei große Schokoriegel (Mr. Goodbars), ein rotes Filigranherz mit Schleife und die Kopie eines neuropathologischen Berichts über die Gehirnautopsie meines Vaters enthielt.

Ich entsinne mich an das hellgraue Winterlicht jenes Vormittags. Ich weiß noch, dass ich die Schokoriegel, die Karte und das Herz im Wohnzimmer liegen ließ, mit dem Autopsiebericht ins Schlafzimmer ging, mich hinsetzte und las. Das Gehirn (so begann der Bericht) wog 1255 Gramm und zeigte parasagittale Atrophien mit Furchenerweiterungen. Ich weiß noch, dass ich Gramm in Pfund übersetzte und Pfund in die vakuumverpackten Fleischklumpen im Kühlregal des Supermarkts. Ich weiß noch, dass ich nicht weiterlas und den Bericht in den Umschlag zurückschob.

Ein paar Jahre vor seinem Tod hatte mein Vater an einer Studie der Washington University zum Thema Gedächtnis und Altern teilgenommen, und eine der Draufgaben war die kostenlose Gehirnautopsie nach dem Tod des Probanden gewesen. Ich vermute, dass meine Mutter, die auf alles flog, was es umsonst gab, meinen Vater wegen der ebenfalls kostenlosen Betreuung und Behandlung zur Teilnahme an dieser Studie gedrängt hatte. Sparsamkeit war vermutlich auch das einzige bewusste Motiv dafür, dass sie den Autopsiebericht in mein Valentinspäckchen gesteckt hatte. Sie sparte zweiunddreißig Cent Porto.

Meine klarsten Erinnerungen an diesen Februarmorgen sind visueller und räumlicher Art: die gelben Mr. Goodbars, der Wechsel vom Wohnzimmer ins Schlafzimmer, das Vormittagslicht einer Jahreszeit, die vom Winteranfang genauso weit entfernt war wie vom Frühlingsbeginn. Ich weiß jedoch, dass selbst diesen Erinnerungen nicht zu trauen ist. Den neuesten Theorien zufolge ist das Gehirn kein Album, in dem jede Erinnerung einzeln aufbewahrt wird wie ein Foto. Der Psychologe Daniel L. Schachter beschreibt eine Erinnerung vielmehr als “temporäre Konstellation" der Gehirntätigkeit ­ eine naturgemäß unscharf begrenzte Erregung neuronaler Schaltkreise, die eine Reihe von Wahrnehmungsbildern und semantischen Daten in die temporäre Wahrnehmung eines erinnerten Ganzen einbindet.

Diese Bilder und Daten sind selten das exklusive Eigentum einer bestimmten Erinnerung. Schon während die Erlebnisse jenes Valentinstags in mir aufsteigen, bedient sich mein Gehirn der viel älteren Begriffe “rot", “Herz" und “Mr. Goodbar", der graue Himmel vor den Fenstern ist mir von tausend anderen Wintertagen vertraut, und ich habe bereits Millionen von Neuronen auf das Bild meiner Mutter verwandt ­ ihren Geiz in Portofragen, die Liebesbeweise für ihre Kinder, ihre unterdrückte Wut auf meinen Vater.Meine Erinnerung an diesen Morgen besteht also aus einer Reihe fester neuronaler Verbindungen zwischen den zuständigen Gehirnregionen und einer Prädisposition für die Gesamtkonstellation, die sich chemoelektrisch aktiviert, wenn ein Teilbereich stimuliert wird. Man sage “Mr. Goodbar" und bitte mich um freie Assoziation. Wenn ich nicht auf “Diane Keaton" komme, dann ganz bestimmt auf “Gehirnautopsie".

Irgendwann, vielleicht im weiteren Verlauf des Valentinstags, zwang ich mich, den ganzen Pathologiebericht zu lesen. Er enthielt den “mikroskopischen Befund" des Gehirns, das meinem Vater gehört hatte: Sektion der Stirn-, Scheitel-, Hinterhaupts- und Schläfenlappen zeigte zahlreiche senile Plaques vom markanten und gestreuten Typus mit geringer neurofibrillarer Lockenbildung. Kortikale Levysche Körperchen ließen sich in der H&E-gefärbten Substanz leicht nachweisen. Der Mandelkern wies Plaques auf, vereinzelte Locken und leichten Zellschwund.

Neun Monate zuvor, beim Aufgeben der Todesanzeige, hatte meine Mutter auf der Formulierung bestanden, mein Vater sei “nach langer Krankheit" verstorben. Ihr gefiel daran das Förmliche und Verhaltene, aber der Groll, der im Wort “lang" mitschwingt, ist kaum zu überhören. Die bei der Obduktion entdeckten senilen Plaques bestätigten, womit mein Vater viele Jahre Tag für Tag zu kämpfen hatte: Wie Millionen anderer Amerikaner litt er an der Alzheimer-Krankheit. Das war seine Krankheit, aber auch, so könnte man sagen, seine Geschichte.

Alzheimer ist eine Krankheit mit schleichendem Verlauf. Da auch gesunde Menschen mit dem Alter vergesslich werden, lässt sich nicht feststellen, wann eine Gedächtnisleistung erstmals dem Morbus Alzheimer zum Opfer fällt. Bei meinem Vater war es besonders kompliziert, weil er nicht nur depressiv, introvertiert und schwerhörig war, sondern auch starke Medikamente wegen anderer Krankheiten nahm. Lange Zeit war es möglich, seine inadäquaten Antworten auf die Schwerhörigkeit zu schieben, seine Vergesslichkeit auf die Depression, seine Halluzinationen auf die Medikamente, und genau das taten wir. In jenen Jahren war ich weit von zu Hause weg. Mein Wissen bezog ich vor allem aus den Klagen meiner Mutter über meinen Vater, und diese Klagen nahm ich nicht ganz ernst, denn mein Leben lang hatte ich nichts anderes von ihr gehört.

Die Ehe meiner Eltern war alles andere als glücklich. Sie blieben wegen der Kinder zusammen und weil sie nicht glaubten, durch eine Scheidung glücklicher zu werden. Solange mein Vater arbeitete, hatte jeder seinen eigenen Bereich, sie den Haushalt, er den Beruf, aber 1981, nach seiner Pensionierung mit 66 Jahren, begannen sie in ihrem gemütlich eingerichteten Vorstadthaus mit der Ganztagsdarbietung des Ehedramas “No Exit". Ich reiste zu Kurzbesuchen an wie eine UN-Friedenstruppe und hörte mir die erbitterten Vorwürfe beider Seiten an.

Im Unterschied zu meiner Mutter war mein Vater bis zu seiner Pensionierung kerngesund. Seine Eltern und Onkel hatten es auf achtzig oder neunzig Jahre gebracht, und er, Earl Franzen, war fest davon überzeugt, dass er mit neunzig noch leben würde, um, wie er gern sagte, “zu sehen, wie sich die Dinge entwickeln". (Sein anagrammatischer Namensvetter Lear stellte sich das Greisenalter ganz ähnlich vor: Er wollte mit Cordelia dem Hofklatsch lauschen und erfahren, “wer siegt und wer verliert, wer drin ist und wer draußen".) Mein Vater hatte keine Hobbys, seine Freuden beschränkten sich aufs Essen, auf die Besuche seiner Kinder, aufs Bridgespiel, aber er hatte ein episches Interesse am Leben. Unermüdlich sah er die Fernsehnachrichten. Sein Altersehrgeiz war es, die Entwicklung der Nation und seiner Kinder zu verfolgen, solange es nur ging. Das Passive dieses Ehrgeizes und die Gleichförmigkeit seines Alltags machten ihn weitgehend unsichtbar für mich. Aus den Anfängen seiner Demenz Ende der Achtzigerjahre ist mir nur ein einziger konkreter Vorfall im Gedächtnis: Beim Besuch des Restaurants scheiterte er trotz aller Bemühungen an der Aufgabe, anhand der Rechnung das Trinkgeld zu ermitteln.

Glücklicherweise war meine Mutter eine großartige Briefschreiberin. Die Passivität meines Vaters, die ich bedauerlich fand, aber nicht als mein Problem betrachtete, war für sie eine Quelle bitterer Enttäuschung. Bis zum Herbst 1989, als mein Vater, wie ich ihren Briefen entnehme, noch Golf spielte und die wichtigsten Hausreparaturen selbst vornahm, blieben ihre Klagen strikt auf den familiären Bereich beschränkt:

“Es ist extrem schwierig, mit einem unglücklichen Menschen zu leben, wenn man weiß, dass man die Hauptursache seines Unglücks ist. Schon vor Jahrzehnten, als Dad mir erzählte, dass es so was wie Liebe nicht gibt (dass Sex eine ,Falle' ist) und dass es ihm nicht vergönnt war, glücklich zu sein, hätte ich so klug sein müssen, zu erkennen, dass es keine Hoffnung auf eine Beziehung gab, die mich erfüllte. Aber ich war mit den Kindern und den Menschen, die ich gern hatte, ausgelastet und habe mir wahrscheinlich wie Scarlett O'Hara gesagt, ,Sorgen mache ich mir später'."

Der Brief stammt aus einer Zeit, als sich das elterliche Ehedrama auf das Thema seiner Schwerhörigkeit verlagert hatte. Aber im Rückblick ist kaum zu übersehen, dass die schlechten Ohren als Staffage für weit ernstere Probleme herhalten mussten. Ein Brief vom Januar 1990 enthält den ersten schriftlichen Hinweis auf diese Probleme: “Letzte Woche hat er seine morgendlichen Pillen weggelassen, weil er zum Fahrtauglichkeitstest an der Washington University musste, wo er an der Studie zu Alter und Gedächtnis teilnimmt. In der Nacht wurde ich von seinem elektrischen Rasierer geweckt, ich schaute auf die Uhr, es war halb drei, und er war im Bad und rasierte sich."

Wenige Monate später machte mein Vater schon so viele Fehler, dass meine Mutter andere Erklärungen bemühen musste: “Entweder ist er überanstrengt oder zerstreut oder hat irgendeine geistige Störung, aber es gab eine ganze Menge Vorfälle, die mir wirklich Sorgen machen. Er lässt die Wagentür offen oder die Scheinwerfer brennen. Mir ist wirklich nicht wohl beim Gedanken, ihn für längere Zeit allein im Haus zu lassen."

Die Angst, ihn allein zu lassen, gewann im Lauf des Jahres immer mehr an Gewicht. Ihr rechtes Knie war abgenutzt, ihr stand eine komplizierte Operation mit langer Rehabilitation bevor. Ihre Briefe von Ende 1990 und Anfang 1991 sind durchsetzt von quälenden Zweifeln, ob sie die Operation riskieren konnte und was in diesem Fall mit meinem Vater geschehen sollte: “Wäre er nur eine Nacht allein im Haus und ich im Krankenhaus, würde ich durchdrehen, weil er das Wasser laufen lässt, manchmal den Herd nicht abstellt, überall Licht macht und so weiter ... Ich prüfe in letzter Zeit alles nach, sooft ich kann, aber selbst dann herrscht bei uns ein heilloses Durcheinander, und was mich am härtesten ankommt, ist sein Vorwurf der Einmischung ­ ,Halt dich aus meinen Angelegenheiten raus!!!' Er sieht oder akzeptiert nicht, dass ich ihm helfen will, und das ist das Allerschwerste für mich."

Zu der Zeit hatte ich gerade meinen zweiten Roman beendet, deshalb bot ich ihr an, während ihres Klinikaufenthalts auf meinen Vater aufzupassen. Um seinen Stolz nicht zu verletzen, einigte ich mich mit ihr darauf, so zu tun, als wäre ich ihretwegen und nicht seinetwegen gekommen. Das Seltsame war jedoch, dass ich das nur halbherzig tat. Was meine Mutter über die Fehlleistungen meines Vaters schrieb, war nicht zu bezweifeln, aber genauso glaubhaft beschrieb mein Vater meine Mutter als nörgelnde Schwarzseherin. Ich fuhr nach St. Louis, weil seine Defizite für sie absolut real waren; doch als ich dort war, verhielt ich mich so, als existierten sie überhaupt nicht.

Obwohl ich nie so lange mit meinem Vater allein gewesen war, habe ich heute keine ausgeprägten Erinnerungen mehr an unser Zusammensein. Mein heutiger Eindruck ist, dass er ein wenig zu ruhig, aber insgesamt völlig normal war. Das, könnte man meinen, stand in direktem Widerspruch zu den Briefen meiner Mutter. Doch ich kann mich nicht erinnern, dass mir dieser Widerspruch aufgefallen wäre. An einen Freund schrieb ich damals lediglich, dass die Medikation meines Vater angepasst wurde und dass nun alles in Ordnung sei. Wunschdenken? Ja, zu einem gewissen Grad. Aber die Neigung, aus Bruchstücken ein Ganzes zu konstruieren, ist eine Grundeigenschaft unseres Verstandes. Wir haben einen blinden Fleck im Sehfeld, wo der Sehnerv auf die Netzhaut trifft, aber das Gehirn liefert uns ein lückenloses Bild der Außenwelt. Wir fangen Wortfragmente auf und hören die Wörter vollständig. Wir sehen dämonische Fratzen in Blumentapeten. Ständig füllen wir Leerstellen aus. Wohl in ähnlicher Weise war ich geneigt, sein Schweigen und seine geistigen Absenzen umzudeuten und ihn unverändert als den alten, völlig intakten Earl Franzen zu erleben. Ich brauchte ihn noch als Akteur in der Geschichte meiner selbst.

Im selben Frühjahr wurde bei meinem Vater eine kleine, langsam wachsende Prostatageschwulst festgestellt. Seine Ärzte meinten, sie müsse nicht behandelt werden, aber er bestand auf einer Strahlentherapie. Offenbar auf indirekte Weise über seinen Geisteszustand im Bilde, packte ihn die Angst, dass in ihm etwas Schreckliches vorging, dass er seinen neunzigsten Geburtstag vielleicht doch nicht mehr erleben würde. Es folgten ein paar relativ optimistische Monate. Die Geschwulst war verbannt. Aber seine Ängste blieben, und allmählich verschob sich der Akzent ihrer Mitteilungen vom Persönlichen und Moralischen ins Psychiatrische. “Es ist beunruhigend, wie viele Freunde wir in den vergangenen sechs Monaten verloren haben ­ teilweise sicher wegen Dads Nervosität und Depression", schrieb sie im Februar 1992.

Eine Weile lang blieb “Nervosität und Depression" eine feste Wendung in ihren Briefen. Dank Prozac schien mein Vater aufzuleben. Aber die Wirkung war von kurzer Dauer. Im Juli 1992 fand er sich endlich ­ und zu meiner Überraschung ­ bereit, zum Psychiater zu gehen. Der Psychiatrie hatte er immer gründlich misstraut. Psychotherapie betrachtete er als Verletzung der Intimsphäre, seelische Gesundheit als Frage der Selbstdisziplin und die zunehmend spitzzüngigen Vorschläge meiner Mutter, “mal mit jemandem zu reden", als Akte der Aggression, als böswillige Schuldzuweisungen für ihre unglückliche Ehe. Es war ein Ausdruck seiner tiefen Verzweiflung, dass er sich freiwillig in die Praxis eines Psychiaters begab. Im Oktober, bei einem Zwischenstopp in St. Louis auf dem Weg nach Italien, fragte ich ihn nach der Behandlung. Er machte eine resignierende Geste. “Ein äußerst fähiger Arzt", sagte er. “Aber ich fürchte, er hat mich abgeschrieben."

Der Gedanke, dass jemand meinen Vater abschrieb, war mir unerträglich. Aus Italien schickte ich dem Psychiater einen dreiseitigen Brief mit der Bitte, den Fall noch einmal zu überprüfen, aber währenddessen ging es zu Hause drunter und drüber. “Ich muss Dir leider mitteilen, dass Dad einen fürchterlichen Rückschlag erlitten hat", faxte meine Mutter nach Italien. Er sah nicht ein, dass er eine Pflegerin brauchte, und wenn, warum dann eine Fremde und nicht seine Frau? Er war ein typisches “Nachtgespenst" geworden. Am Tag dämmerte er vor sich hin, nachts stellte er das Haus auf den Kopf.

Es folgte unser unglückseliger Besuch, als meine Frau und ich endlich für meine Mutter tätig wurden und eine Alterspflegerin suchten. Meine Mutter drängte uns, ihn so zu ermüden, dass er nachts ohne psychotische Ausbrüche durchschlief. Er saß mit versteinertem Gesicht am Kamin und erzählte Schauergeschichten aus seiner Kindheit, während meine Mutter über die Kosten, die untragbaren Kosten der Altenpflege schimpfte. Aber wenn ich mich recht erinnere, fiel nie das Wort “Demenz". In den Briefen meiner Mutter kommt das Wort “Alzheimer" nur ein einziges Mal vor ­ in Bezug auf eine alte deutsche Frau, für die ich als Teenager gearbeitet hatte.

Ich weiß noch, wie misstrauisch und ablehnend ich vor fünfzehn Jahren reagierte, als das Wort “Alzheimer" plötzlich in aller Munde war. Ein weiteres Beispiel für die Pathologisierung des Menschlichen, dachte ich, die neueste Bereicherung der ständig wachsenden Opfer-Nomenklatur. Selbst jetzt ist mir unwohl, wenn ich mich über die Alzheimer-Krankheit informiere. Zum Beispiel erinnert mich die Lektüre von David Shenks Buch “The Forgetting. Alzheimer's. Portrait of an Epidemic" daran, dass mein Vater, wenn er sich in seinem angestammten Wohnviertel verirrte oder vergaß, die Klospülung zu drücken, die gleichen Symptome hatte wie Millionen andere Betroffene.

Eine solche Gemeinschaft kann auch tröstlich sein, aber es tut weh, wenn bestimmte Fehler, die mein Vater gemacht hat, ihres persönlichen Charakters beraubt werden ­ wie die Verwechslung meiner Mutter mit seiner Schwiegermutter, die mir damals unerhört und mysteriös vorkam und aus der ich alle möglichen Einsichten über die Ehe meiner Eltern gewann. Meine Vorstellung von der Autonomie der Persönlichkeit stellte sich als Illusion heraus.

Altersdemenz gibt es, seit es die Möglichkeit gibt, sie zu diagnostizieren. Solange die Lebenserwartung gering war und hohes Alter eine Ausnahme, wurde die Senilität als natürliche Begleiterscheinung des Alterns betrachtet, vielleicht als Ausdruck der Arteriosklerose. Der junge deutsche Neuropathologe Alois Alzheimer glaubte sich mit einer völlig neuen geistigen Erkrankung konfrontiert, als er 1901 die einundfünfzigjährige Auguste D. in seine Praxis aufnahm. Sie litt unter bizarren Stimmungsschwankungen, schwerem Gedächtnisverlust und gab bei der Aufnahmeuntersuchung problematische Antworten:

“Wie heißen Sie?"
“Auguste."
“Ihr Nachname?"
“Auguste."
“Wie heißt Ihr Mann?"
“Auguste, glaube ich."

Als Auguste D. vier Jahre später in einer Anstalt starb, machte sich Alzheimer die neuesten Fortschritte der Mikroskopie und Gewebsfärbung zunutze und entdeckte die frappierende Doppelsymptomatik ihrer Krankheit: In den Gehirnproben fanden sich viele klebrig aussehende Klümpchen, “Plaques", und zahllose Nervenzellen, die von gekringelten Fibrillen, “Locken", umgeben waren. Für diesen Fund interessierte sich Emil Kraepelin, damals Oberhaupt der deutschen Psychiatrie. Er sah in Alzheimers Plaques und Locken willkommene Belege für seine Überzeugung, dass seelische Erkrankungen primär organischer Natur seien. In seinem Handbuch der Psychiatrie taufte er die Krankheit der Auguste D. Morbus Alzheimer.

Ein früh einsetzender Alzheimer ist zumeist genetisch bedingt, aber die sehr viel häufigere Variante, die im höheren Lebensalter beginnt, kann nicht auf einen einzigen Faktor zurückgeführt werden. Die Ätiologie der Krankheit bietet ein verwirrendes Bild: Je nachdem, wie man sie betrachtet, stellt sie sich als Gehirnentzündung dar, als neurochemische Störung oder als pathologische Proteinablagerung, wie sie gelegentlich auch Herz und Nieren befällt.

Der noch nicht fünfzigjährige David Shenk gibt in seinem Buch “The Forgetting. Alzheimer's. Portrait of an Epidemic" zu bedenken, dass der Sieg über die Altersdemenz nicht nur segensreiche Folgen haben könnte. Eine auffällige Besonderheit der Krankheit sei es zum Beispiel, dass die Betroffenen in ihrem Verlauf immer weniger unter ihr zu leiden hätten. Shenk zitiert Patienten, die das Vergessen “als etwas Köstliches" empfinden und eine Steigerung ihres Wohlbefindens bekunden, seit sie nur noch in einem ewigen Jetzt leben. Ich möchte dagegenhalten, dass mein Vater alles andere wollte, als sich wieder in ein Kleinkind zu verwandeln. Die Geschichten, die er aus seiner Kindheit im nördlichen Minnesota erzählte, waren (wie so oft bei Depressiven) überwiegend furchtbar: brutaler Vater, ungerechte Mutter, endlose Pflichten, ländliche Armut, Familientragödien, grässliche Unfälle. Mein Vater war ein sehr verschlossener Mensch, und die Verschlossenheit hatte für ihn den Sinn, sein beschämendes Innenleben vor fremden Blicken zu verbergen. Konnte es für ihn etwas Schlimmeres geben als die Alzheimer- Krankheit? In ihren frühen Stadien löste sie die persönlichen Bindungen auf, die ihn vor den gravierendsten Folgen des depressiven Rückzugs bewahrt hatten. Später raubte sie ihm die Panzerungen des Erwachsenseins, die er brauchte, um das Kind in sich zu verbergen. Ich wünschte, er hätte stattdessen einen Herzinfarkt bekommen.

Mag Shenks Plädoyer für die tröstlichen Seiten der Alzheimerkrankheit auf wackligen Füßen stehen ­ seine Kernthese ist weit schwerer zu entkräften: Senilität ist nicht nur eine Auslöschung von Sinn, sondern auch eine Quelle von Sinn. Für meine Mutter führte die Krankheit dazu, dass alte Konstellationen ihrer Ehe sowohl verstärkt als auch umgedreht wurden. Mein Vater hatte sich immer geweigert, sich ihr zu öffnen, und nun, in zunehmendem Maße, konnte er es nicht mehr. Für sie blieb er dabei derselbe Earl Franzen, der in seinem Zimmer vor sich hin dämmerte und nicht verstand, was sie sagte. Paradoxerweise war sie diejenige, die langsam, aber sicher ihrer Persönlichkeit verlustig ging. Sie lebte mit einem Mann, der sie mit ihrer Mutter verwechselte, der alles vergaß, was er je über sie gewusst hatte, und schließlich auch ihren Namennicht mehr kannte. Er, der immer auf der Rolle des Familienoberhaupts bestanden hatte, der Entscheidungsträger, der erwachsene Beschützer seiner kindlichen Frau, verfiel nun wieder in das Verhalten eines Kindes. Jetzt kamen die ungehörigen Gefühlsausbrüche von ihm, nicht mehr von meiner Mutter. Jetzt lotste sie ihn durch die Stadt, wie sie einst mich und meine Brüder durch die Stadt gelotst hatte. Schritt für Schritt übernahm sie seine Führungsrolle. Einerseits war die “lange Krankheit" meines Vaters eine schreckliche Belastung und Enttäuschung für sie, andererseits bot sie ihr die Möglichkeit, eine Autonomie zu entwickeln, die ihr nie zuvor vergönnt gewesen war ­ und ein paar sehr alte Rechnungen zu begleichen.

Und ich? Als ich das Ausmaß des Unglücks akzeptiert hatte, zwang mich die unabsehbare Dauer der Alzheimer-Krankheit zu einem engeren und überraschend wohltuenden Kontakt zu meiner Mutter. Ich lernte ­ was anders vielleicht nicht geschehen wäre ­, dass ich mich auf meine Brüder verlassen konnte und sie sich auf mich. Und seltsamerweise verlor ich, der ich immer größten Wert auf meine Intelligenz, meinen gesunden Verstand, mein Selbstwertgefühl gelegt hatte, ein wenig von der Angst, dass es mir wie meinem Vater ergehen könnte, dem alle diese Fähigkeiten abhanden gekommen waren. Auch sonst war ich nun weniger ängstlich. Eine Tür, vor der ich mich gefürchtet hatte, war aufgegangen, und ich fand den Mut zum Eintreten.

Ich ging jeden Tag ins Krankenhaus und saß so viele Stunden bei meinem Vater, wie ich es aushalten konnte. Kein einziges Mal brachte er zwei sinnvolle Sätze zusammen. Die Erinnerung, die mir im Nachhinein die bedeutsamste zu sein scheint, ist eine sehr merkwürdige. Die Szene spielt sich in einem traumartigen Zwielicht ab, in einem engen Krankenzimmer, das in keiner anderen Erinnerung wiederkehrt, und sie ist nicht mit den Zeitmarkierungen versehen, die ich sonst von meinen Erinnerungen gewöhnt bin. Ich bin nicht einmal sicher, ob sie aus der ersten Woche meiner Krankenhausbesuche datiert. Und doch weiß ich genau, dass es sich nicht um eine Traumerinnerung handelt. Alle Erinnerungen, sagen die Neuropathologen, sind Erinnerungen an Erinnerungen, aber normalerweise merkt man das nicht. Bei dieser ist es anders, ich erinnere sie als Erinnerungsbild: mein Vater im Bett, meine Mutter neben ihm auf dem Stuhl, ich an der Tür stehend. Wir führen eine erregte Debatte, möglicherweise geht es darum, wohin mein Vater nach der Entlassung aus dem Krankenhaus gebracht wird. Obwohl er der Debatte kaum folgen kann, hält er sie nicht aus. Schließlich, als hätte er genug von diesem Unsinn, ruft er unter Aufbietung aller Gefühle: “Ich habe deine Mutter immer geliebt. Immer!" Meine Mutter schlägt schluchzend die Hände vors Gesicht.

Es war das einzige Mal, dass ich meinen Vater das sagen hörte. Ich bin sicher, dass die Erinnerung echt ist, weil mir die Szene schon damals äußerst bedeutsam vorkam. Gleich darauf schilderte ich sie meiner Frau und meinen Brüdern, und ich fügte sie in das Bild ein, das ich mir von meinen Eltern zurechtgemacht hatte. In späteren Jahren, als meine Mutter behauptete, mein Vater hätte ihr nie seine Liebe bekundet, fragte ich sie nach der Szene im Krankenhaus. Sie schüttelte zweifelnd den Kopf. “Vielleicht", sagte sie. “Vielleicht stimmt es. Ich kann mich nicht erinnern."

Abwechselnd mit meinen Brüdern fuhr ich alle paar Monate nach St. Louis. Jedes Mal erkannte mich mein Vater als jemanden, über dessen Besuch er sich freute. Sein Leben im Pflegeheim schein ein endloser, bedrückender Traum zu sein, bevölkert von Phantomen seiner Vergangenheit, von seinen deformierten und hirngeschädigten Mitbewohnern; die Pflegeschwestern waren nicht so sehr Akteure in diesem Traum als vielmehr unwillkommene Störenfriede. Im Unterschied zu vielen Patientinnen, die wie Säuglinge weinten und im nächsten Moment vor Freude strahlten, weil sie mit Eiskrem gefüttert wurden, sah ich meinen Vater nie weinen, und die Freude am Eisessen hörte nicht auf, der Freude eines Erwachsenen zu gleichen. Bedeutsam nickend und wehmütig lächelnd vertraute er mir wirres Zeug an, und ich tat, als würde ich ihn verstehen. Das beständigste Thema war sein fast vernünftiger Wunsch, aus “diesem Hotel" wegzukommen ­ er könne doch in einer kleinen Wohnung leben und sich von meiner Mutter versorgen lassen.

Zu Thanksgiving holten wir ihn in nach Hause. Wenn meine Mutter gehofft hatte, ihm damit eine Freude zu machen, wurde sie bitter enttäuscht. Der Ortswechsel beeindruckte ihn nicht im Geringsten, auch darin ähnelte er nun einem einjährigen Kind. Wir setzten uns an den Kamin. Aus Gedankenlosigkeit und schlechter Gewohnheit machten wir Fotos von einem Mann, den nichts mehr zu bewegen schien ­ außer dem Wissen, welch trauriges Fotomotiv er abgab. Die Bilder sind furchtbar geworden: Mein Vater hängt schief im Rollstuhl wie eine abgelegte Marionette mit starrem Irrsinnsblick und hängendem Kiefer, die spiegelnde Brille droht ihm von der Nase zu rutschen. Das Gesicht meiner Mutter ist eine Maske von halbwegs beherrschter Verzweiflung, meine Frau und ich strecken die Hand nach meinem Vater aus und machen den grotesken Versuch, dabei in die Kamera zu lächeln. Beim Essen breitete meine Mutter anstelle der Serviette ein Badetuch über ihn und schnitt seinen Truthahn in kleine Häppchen. Ständig fragte sie ihn, ob er sich nicht freue, zum Thanksgiving-Dinner zu Hause zu sein. Er reagierte mit Schweigen, unruhigen Blicken, ab und zu mit schwachem Schulterzucken. Meine Brüder riefen an, um ihm einen schönen Feiertag zu wünschen ­ und da plötzlich gelang ihm ein Lächeln und eine muntere Erwiderung; er konnte einfache Fragen beantworten, er dankte beiden für den Anruf.

Auch das war nicht untypisch für einen Alzheimer-Patienten. Wohl aber, was danach passierte, bei der Rückkehr ins Pflegeheim. Während meine Frau einen Krankenstuhl aus dem Heim holte, saß mein Vater neben mir und musterte das Portal, das ihn nun zurückerwartete. “Lieber gar nicht erst raus", sagte er mit kräftiger, klarer Stimme, “als hinterher wieder rein. " Das war keine wirre Äußerung, sie bezog sich direkt auf seine Situation und erweckte stark den Eindruck, dass er nicht nur sein Leiden wahrnahm, sondern auch sein Eingebundensein in Vergangenheit und Zukunft. Es war die Bitte, ihm die schmerzhafte Rückkehr in die Erinnerung und ins Bewusstsein zu ersparen. Und es kam, was kommen musste: Am Morgen darauf und für die restliche Zeit unseres Besuchs tobte er, wie ich es noch nicht erlebt hatte. Er brüllte wirres Zeug und drosch wütend um sich.

David Shenk meint, das wichtigste “Sinnfenster", das sich der Alzheimer-Krankheit abgewinnen lässt, sei die Verlangsamung des Sterbens. Er vergleicht die Krankheit mit einem Prisma, das den Tod in ein Spektrum aus Vorgängen zerlegt, die normalerweise zusammen stattfinden ­ erst stirbt die Autonomie, dann das Gedächtnis, dann die Selbstwahrnehmung, dann die Persönlichkeit, am Ende der Körper ­, und bestätigt damit ein verbreitetes Urteil über die Krankheit: Sie sei deshalb besonders traurig und schrecklich, weil die Persönlichkeit lange vor dem Körper stirbt.

Das scheint mir im Wesentlichen richtig zu sein. Als das Herz meines Vaters stehen blieb, trauerte ich schon seit Jahren um ihn. Und doch frage ich mich beim Betrachten seiner Geschichte, ob man die verschiedenen Tode wirklich voneinander trennen kann, ob Gedächtnis und Bewusstsein tatsächlich und unangefochten der Hort der Persönlichkeit sind. Ich kann nicht aufhören, in den zwei Jahren, die dem Verlust seiner “Persönlichkeit" folgten, einen Sinn zu suchen ­ und zu finden.

Nach dem so traurig verlaufenen Thanksgiving, als uns klar wurde, dass er nie wieder nach Hause kommen würde, half ich meiner Mutter beim Ordnen seines Schreibtischs (eine Freiheit, die man sich nur bei Kindern oder bei Toten nimmt). In einer Schublade fanden wir Belege für seinen verdeckten Kleinkrieg gegen das Vergessen ­ einen Haufen Zettel, auf denen er die Adressen seiner Kinder vermerkt hatte, jede Adresse einzeln und auf mehreren Zetteln wiederholt. Auf einem anderen Zettel standen die Geburtstage seiner zwei ersten Söhne ­ “Bob, 13. 1. 48" und “Tom, 15. 10. 50" ­ und darunter hatte er meinen Geburtstag schreiben wollen (17. August 1959), ihn aber vergessen und mit Hilfe der vorhandenen Daten konstruiert: “Jon, 13. 10. 49".

Denkwürdig auch seine vermutlich letzten Worte an mich, drei Monate vor seinem Tod. Ein paar Tage lang war ich für pflichtgemäße neunzig Minuten bei ihm im Heim gewesen, hatte mir das Gemurmel über meine Mutter und die Mutmaßungen über die kleinen Dinger angehört, die er an seinen Ärmeln und auf seinen Hosenbeinen zu sehen glaubte. Als ich am letzten Tag vorbeikam, war er unverändert, auch als ich seinen Rollstuhl ins Zimmer zurückschob und ihm sagte, dass ich abreisen würde. Aber dann blickte er zu mir auf und fand unvermittelt zu seiner klaren, kräftigen Stimme zurück: “Danke für dein Kommen und dass du dir die Zeit für mich genommen hast." Eine leere Höflichkeitsphrase? Ein Fenster zu seinem tieferen Selbst? Für mich gibt es da kaum eine Wahl.

Indem ich den Verfall meines Vaters mit Hilfe der Briefe rekonstruiere, die mir meine Mutter geschrieben hat, wird mir der Schatten der undokumentierten Jahre nach 1992 deutlich, als wir länger und häufiger telefonierten und sich die Briefe auf kurze Botschaften beschränkten. Platon hat in seinem Phaidros das Schreiben sehr treffend als “Krücke des Erinnerns" bezeichnet. Ohne die Briefe meiner Mutter könnte ich die Geschichte meines Vater nicht erzählen. Aber wo Platon den Verfall der mündlichen Überlieferung und den durch das Schreiben bewirkten Gedächtnisschwund beklagt, beeindruckt mich, der ich mich am anderen Ende des Schriftzeitalters befinde, die Beständigkeit und Verlässlichkeit von Wörtern, die auf Papier geschrieben sind. Die Briefe meiner Mutter sind wahrer und umfassender als meine selbstbezogenen und voreingenommenen Erinnerungen. In ihrem geschriebenen Satz: “Er braucht dringend Ablenkung!" ist sie mir lebendiger als in Stapeln von Fotos und Videoaufnahmen.

Mein Vater hatte ein starkes Herz und kräftige Lungen, und meine Mutter machte sich auf zwei oder drei weitere Jahre gefasst, als er eines Tages, im April 1995, aufhörte zu essen. Möglicherweise hatte er Schluckbeschwerden. Oder er hatte mit dem letzten Rest seines Willens beschlossen, seiner ungewollten zweiten Kindheit ein Ende zu setzen.

Meine Mutter und ich wechselten uns im festen Rhythmus mit Wachen und Schlafen ab. Stunde um Stunde lag mein Vater bewegungslos da und arbeitete sich an den Tod heran, aber wenn er gähnte, war es sein Gähnen. Sein Körper, ausgezehrt wie er war, war ebenfalls und mit aller Klarheit seiner. Selbst als das, was noch von ihm vorhanden war, immer kleiner und fragmentarischer wurde, blieb ich dabei, ihn als ein Ganzes zu sehen. Noch immer liebte ich ihn, im Besonderen, wie er da im Bett lag und gähnte. Und wie sollte ich dieser Liebe keine Geschichten abgewinnen? Geschichten von einem Mann, dessen Wille noch immer so intakt war, dass er den Kopf abwandte, wenn ich ihm mit einem feuchten Schwamm den Mund auswischte? Bis ins Grab werde ich darauf beharren, dass mein Vater entschlossen war zu sterben ­ und das, so gut er konnte, nach seinem eigenen Willen...

(Übersetzung von Chris Hirte.)